„Du bist, was du isst“ – Dummes Gemüse und der Reiz des Neuen und Anderen

Als in Deutschland im Jahr 1848 im Zuge einer temporären, der Revolution geschuldeten Aufhebung der Zensur die ersten Satire-Blätter erschienen, mokierte sich das 1841 gegründete englische Punch-Magazin schon über die Vegetarier-Bewegung, die in England früher Fuß fassen konnte.

Original Vegetarians. Unknown artist, 1848.

Original Vegetarians. Unbekannter Künstler, 1848.

Diese frühe Karikatur mit dem Titel Original Vegetarians war eine illustrative Beigabe zu einem kurzen Text, The Vegetarian Movement, der im satirischen Modus eine große, bestens organisierte, prinzipientreue Vegetarier-Bewegung ankündigt. Allein die Vorstellung, dass sich Menschen allein von Pflanzen (Gemüse) ernähren, sorgte schon für großes Amüsement. Nach dem Motto „Du bist, was du isst“, werden Vegetarierinnen und Vegetarier hier – und in der Folgezeit viele Male – selbst als Gemüse dargestellt; die menschlichen Gesichter und Gestalten haben sich in einen Kürbis und allerlei Wurzelgemüse verwandelt – eine friedliche Parade, die physiognomisch zur Deutung als harmlose bis dümmliche Zeitgenossen („Dummes Gemüse“) einlädt. Ikonographisch und stilistisch knüpfen diese Porträts an die berühmte Karikatur Les Poires aus der Feder von Honoré Daumier an, der den französischen König Louis Philippe im Pariser Charivari diffamierte, indem er dessen Kopf in vier Zeichenschritten in eine matschige Birne verwandelte.

Les Poires (The pears). Honoré Daumier (1808–1879), 1834.

Les Poires (Die Birnen). Honoré Daumier (1808–1879), 1834.

Den Darstellungstypus des Mensch-Pflanze-Hybrids setzt eine weitere Karikatur aus dem Punch um und gibt dem Betrachter genauere Rezeptionsanweisungen: Der nicht genannte Künstler imaginiert nach dem Vorbild der kolonialistisch geprägten Völkerschauen eine „Große Schau ausgezeichneter Vegetarier“ (1852). Jede der präsentierten und sogar zum Verkauf angebotenen Hybrid-Gestalten versetzt das Publikum durch andere physische Merkmale in Erstaunen. Ihr Aussehen ist stets Resultat ihrer Ernährung, die Karottenfrau, so informieren Schilder neben den Exponaten, wurde nur mit Karotten großgezogen usw. Die Karikatur zeigt, in welchem Maße die Vegetarier in der Öffentlichkeit als ein eigenes, ‚fremdes Volk‘ wahrgenommen wurden. Offen bleibt dabei, ob der Künstler die Vegetarier für die Zurschaustellung ihrer Lebensweise verspottet oder das staunende Publikum für seinen Voyeurismus und den Umgang mit dem Anderen kritisiert.

Grand Show of Prize Vegetarians. Unknown artist, 1852.

Grand Show of Prize Vegetarians. Unbekannter Künstler, 1852.

Eine der ersten uns bekannten Vegetarier-Satiren aus dem deutschen Kulturraum greift diese Idee auf und exponiert ähnliche hybride Producte des Berliner Vegetarismus, der nun also auch in Deutschland angekommen war, auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung von 1879. Diese Karikatur modifiziert jedoch den Witz der englischen, denn anders als in London, wo das menschliche Gemüse viel Aufmerksamkeit erfuhr, wurde es in Berlin „leider übergangen“. Der Untertitel mag darauf anspielen, dass Berlin 1879 noch nicht reif war für diese Lebensreform-Bewegung.

Producte des Berliner Vegetarianismus (Products of Berlin Vegetarianism). Wilhelm Scholz (1824–1893), 1879. “Bei der Berliner Gewerbe-Ausstellung im Jahr 1879 – leider Übergangenes.” (“At the Commercial Exhibition 1879 in Berlin—unfortunately ignored”).

Producte des Berliner Vegetarianismus. Wilhelm Scholz (1824–1893), 1879. „Bei der Berliner Gewerbe-Ausstellung im Jahr 1879 leider Übergangenes.“

Die anfängliche Vorstellung von einer schrittweisen Transformation des Vegetariers in eine Pflanze visualisiert besonders detailreich eine weitere Karikatur aus demselben Jahr.

Der Vegetarianer (The vegetarian). Edmund Harburger (1846–1906), 1879.

Der Vegetarianer. Edmund Harburger (1846–1906), 1879.

 

 

 

 

Der Vegetarianer
im ersten Jahre und nach zehn Jahren.

Eben diese verbreitete Korrelation von (friedlicher, fragiler) physischer Erscheinung und (fleischloser) Ernährung – und umgekehrt grober Physis und Fleischkonsum – stellte schon 1869 eine Karikatur aus dem Punch in Frage, deren Titel A Gentle Vegetarian ironisch auf das pflanzenfressende, aber mächtig bedrohlich aussehende Nilpferd bezogen ist. Sein Gegenbild ist die elegante Dame, deren menschliche Physis nicht verrät, dass diese Spezies (bis auf Ausnahmen) zu den Fleischfressern gehört.

Die Vorstellung, dass es sich nicht nur im Aussehen, sondern auch im Charakter eines Menschen niederschlägt, ob er Fleisch isst oder nicht, war im 19. Jahrhundert verbreitet – sowohl bei den Vegetarierinnen und Vegetariern als auch bei ihren Spöttern: Gegenseitig warf man sich Verrohung durch den Fleischverzehr oder aber Verweichlichung durch den Verzicht vor. Bereits bei Rousseau, von dessen pädagogischer Schrift Émile ou de l’éducation der Vegetarismus im 19. Jahrhundert stark beeinflusst war, fand sich die Warnung, den „ursprünglichen Geschmack“ der Kinder, die von sich aus kein Interesse an Fleisch zeigten, „nicht in andere Bahnen zu lenken und die Kinder nicht zu Fleischessern zu machen“, denn das sei „mit Rücksicht auf ihre Charakterbildung bedenklich“ (263). „Wilde“ Völker wurden als Beweise angeführt, deren Grausamkeit allein ihrer fleischlastigen Nahrung entstamme; Rousseau beruft sich gar auf Homers Odyssee und stellt die fleischessenden Zyklopen als „entsetzliche Menschen“ den Lotophagen („Lotosessern“) gegenüber, die ein „so liebenswürdiges Volk“ seien, dass man für immer unter ihnen leben wolle (264).

A Gentle Vegetarian. George du Maurier (1834–1896), 1869. “Morning, Miss! Who’d ever think, looking at us two, that you devoured Bullocks and Sheep, and I never took anything but Rice?”

A Gentle Vegetarian. George du Maurier (1834–1896), 1869. „Morning, Miss! Who’d ever think, looking at us two, that you devoured Bullocks and Sheep, and I never took anything but Rice?“

Die Ideale der Deutschen im 19. Jahrhundert muss man vor dem Hintergrund des Ringens um die Staatsbildung sehen. Einen unbedingten Willen zur Freiheit und den nötigen Kampfgeist nahmen beide Seiten, Vegetarier wie auch ihre Gegner, für sich in Anspruch. Während Letztere meinten, die pflanzliche Kost sei die Ursache für einen schwachen Charakter, der nicht in der Lage wäre, für seine Freiheit zu kämpfen, argumentiert Eduard Baltzer, der Gründer des ersten Vegetarier-Vereins, dass der Fleischkonsum das menschliche „Gewissen“ und die Freiheit gefährde, wie er es in dem Gedicht Thalysia ausdrückt, das die Titelseite der ersten Ausgabe des Vereins-Blatts für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) zierte. Hier imaginiert er eine vegetarische Utopie:

Frontpage of the first edition of the Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Paper for friends of the natural way of life), 1868.

Titelseite der ersten Ausgabe des Vereins-Blatts für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer), 1868.

 

Thalysia
Die Welt liebt Blut, und wieder Blut; 
[…]
Und Thier und Mensch wird’s Opfergut,
[…]

Die Welt liebt Jagd, die heisse Jagd
nach Geld und Ruhm und nach „Genüssen“.
So sinkt sie hin, des Lasters Magd,
Sie jagt sich todt und ihr Gewissen:
Wer wird im Lande gier’ger Sarkophagen
[= wörtl. übers. „Fleischesser“]
Noch nach der Freiheit ächtem Liede fragen?“

Komm Ceres, in die arme Welt,
Komm wieder, ihre Schuld zu mildern.
Bau Du Dein Haus, ein rein Gezelt,
Ein Musenreich den Menschenkindern
[…]

—Eduard Baltzer, „Thalysia“, Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1 June 1868): 1.

Tatsächlich waren für die meisten Vegetarierinnen und Vegetarier andere, persönlichere Gründe ausschlaggebend für den Vereinsbeitritt. 80 bis 90% der Mitglieder erhofften sich Heilung von Krankheit (Teuteberg 1994, 58). Es wurde damals heftig darüber gestritten, ob eine fleischreiche oder eine fleischlose Ernährung besser für die Gesundheit sei: Einerseits wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts tierisches Eiweiß, insbesondere in Form von Fleisch, von Wissenschaftlern wie Justus von Liebig als unverzichtbar für Gesundheit und Arbeitskraft beworben, andererseits verordneten Naturärzte wie Theodor Hahn den Fleischverzicht als zentrales Heilmittel.  Die – aus heutiger Sicht – ohnehin oft unwissenschaftlich geführte Debatte wurde dadurch noch weiter verzerrt, dass unter dem Schlagwort „vegetarianisch“ nicht nur der Verzicht auf Fleisch, sondern auch der auf Alkohol, Tabak, Gewürze, Koffein und andere Reiz- und Genussmittel verhandelt wurde.

Das Vorurteil, dass Vegetarierinnen und Vegetarier physisch weniger leistungsfähig seien als Fleischesser, entkräfteten sie selbst demonstrativ durch die erfolgreiche Teilnahme an Dauer- und Distanzmärschen, was auch eine Karikatur aufgreift. Diese erschien 1893 nach dem Distanzmarsch Berlin–Wien, bei dem zwei Vegetarier das Ziel als Erste erreichten. Während der Empfang der Vegetarianer als Reklame für Gemüse verspottet wird, sind die Sieger hier trotz ihres Erfolgs dem Klischee entsprechend als ausgezehrt dargestellt. In der Tat aber waren solche Veranstaltungen effektive Werbemaßnahmen für die Vegetarier-Bewegung selbst (vgl. Bollmann 2017, 137–138, und Pack 2018). 

Der Empfang der “Vegetarianer” vom Distanzmarsch (The welcoming of the “vegetarians” after the long-distance march). Unknown artist, 1893.

Der Empfang der „Vegetarianer“. Unbekannter Künstler, 1893. „Der Empfang der ‚Vegetarianer‘ vom Distanzmarsch hätte am Naschmarkt stattfinden sollen, denn eine solche Kohlrabi-Reklame ist noch nicht dagewesen!“