Einführung in die Ausstellung

Aus der Frühzeit der Lebensmittelskandale (At the dawn of food scandals). Greser & Lenz, 2011. “Der Spinner nennt sich jetzt Vegetarier” (“Now the weirdo is calling himself a vegetarian”).

Aus der Frühzeit der Lebensmittelskandale. Greser & Lenz, 2011. „Der Spinner nennt sich jetzt Vegetarier“.

In heutiger Zeit, da der Vegetarismus längst dabei ist, sich als alternatives globales Ernährungsmodell kulturell zu etablieren, imaginiert diese Karikatur, wie verständnislos Urmenschen auf die Entscheidung ihrer Zeitgenossen, freiwillig auf tierisches Fleisch zu verzichten und stattdessen Gemüse und Obst zu huldigen, reagiert hätten. Zugleich impliziert sie freilich, dass die Kritiker des Vegetarismus kulturell rückständig seien. Diese Karikatur eignet sich besonders gut als Auftakt unserer Ausstellung, weil sie erstens verspielt-spekulativ zu den (vermeintlichen) historischen Anfängen des Vegetarismus zurückblickt und zweitens auf der sprachlichen und der bildlichen Ebene reflektiert, dass der aufkommende Vegetarismus ein Repertoire an Begriffen und Symbolen zur Ausbildung eines eigenen verbalen und visuellen Diskurses zum Zweck der Kommunikation über den neuen Lebensstil entwickelt.

Heute bedarf das Wort „vegetarisch“ kaum noch einer Erklärung und wird weitgehend schlicht als Synonym für „fleischlose Kost“ verstanden, auch wenn es diverse Präzisierungen gibt, je nachdem, ob auch auf Eier und/oder Milchprodukte verzichtet wird, wie dies Veganerinnen und Veganer tun. Als das Adjektiv „vegetarianisch“, abgeleitet von dem um 1800 entstandenen englischen Wort „vegetarian“, Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland populär wurde und sich ab den 1860ern über Vegetarier-Vereine und -Zeitschriften etablierte, bedeutete es für viele Menschen weitaus mehr als bloß den Verzicht auf Fleisch – es ging um eine Weltanschauung. Zwar stand die pflanzliche Ernährung von Anfang an im Zentrum, doch gab es sehr unterschiedliche Auslegungen davon, was eine „vegetarianische Lebensweise“ im Sinne einer Weltanschauung miteinschloss.

Detail of the caricature Der Vegetarianer (The vegetarian) by Edmund Harburger (1846–1906), 1879.

Ausschnitt aus der Karikatur Der Vegetarianer, von Edmund Harburger (1846–1906), 1879.

Seit der Antike lässt sich die menschliche Beschäftigung mit ihren Esskulturen in schriftlichen Über­lieferungen nachvollziehen, welche verschiedenste Gründe für oder gegen den Fleischkonsum benennen: Sie reichen von gesundheitlichen Erwägungen über tierethische oder religiöse Prinzipien bis hin zu ökonomischem Kalkül, wobei die Überzeugung, dass der Mensch kein Fleisch braucht, der gegenteiligen gegen­über­steht. Bewegungen, die eine fleischlose Ernährung propagieren, finden sich schon im sechsten Jahrhundert v. Chr., als Pythagoras seine Anhänger zum Fleischverzicht aufforderte. Öffent­lich präsent und kontrovers diskutiert wurden Vegetarismus und Veganismus in den Massen­medien in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals stieg der Fleischkonsum der bürgerlichen (und insbesondere männlichen) Bevölkerung rasant an und erreichte zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt, der dann erst nach der Mitte des 20. Jahrhunderts im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs übertroffen wurde. Die Entstehung des Vegetarismus im 19. Jahrhundert lässt sich als Gegenbewegung zur fortschreitenden Industrialisierung verstehen, die aus Sicht der Vegetarierinnen und Vegetarier zu einer Entfremdung von der Natur, zu körperlichem und sittlichem Verfall geführt hat.

Unsere Ausstellung beleuchtet die Anfänge dieser Debatte um fleischlose Ernährung im deutschsprachigen Kulturraum und zeigt, wie sich diverse Positionen und Argumente entwickelt haben. Dies tut sie allerdings nicht wie andere kulturhistorische Studien primär anhand von Textquellen, sondern ausgehend von Karikaturen, die in deutschsprachigen Satire-Zeitschriften seit der Gründung des ersten Vegetarier-Vereins im Jahr 1867 bis kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erschienen sind. Die Ausstellung wählt also eine besondere Perspektive: Sie spiegelt die Ausdifferenzierung des Diskurses rund um den Vegetarismus in verbo-visuellen Satiren, die seinerzeit die Bewegung, Lebens­philosophie, Vereinsstrukturen und Ernährungsgewohn­heiten verspottet haben.

Karikaturen und andere Formen der Satire reagieren unmittelbar auf aktuelle Ereignisse. Historische Karikaturen verraten uns, was zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als neu, befremdlich und kritikwürdig wahrgenommen wurde und warum. Es ist jedoch eine Herausforderung, die gesellschaftlichen Diskurse aus der satirischen Verzerrung heraus zu rekonstruieren. Wo es gelingt, erhellen die Karikaturen die Kulturgeschichte des frühen Vegetarismus. Die in dieser Einleitung nur in Ausschnitten gezeigten Karikaturen werden in einzelnen Kapiteln, die verschiedene verbale und visuelle Argumente wider den Vegetarismus vorstellen, genauer betrachtet.

Detail of the caricature Zu streng (Too strict) by Hermann Schlittgen (1859–1930), 1894.

Ausschnitt aus der Karikatur Zu streng, von Hermann Schlittgen (1859–1930), 1894.

 

Detail of the caricature Vegetarianer-Poesie (A vegetarian’s poetry) by Adolf Oberländer (1845–1923), 1886.

Ausschnitt aus der Karikatur Vegetarianer-Poesie, von Adolf Oberländer (1845–1923), 1886.

 

Historiker behandeln Karikaturen leider oft als bloße Illustrationen und Belege für geschichtliche Ereignisse. Als ein einzigartiges Medium der Kulturkritik, das einfallsreich problematische Entwicklungen offenbart und, meist durch eine Text-Bild-Kombination, Alternativen imaginiert, verdient die Karikatur mehr Aufmerksamkeit. Als Konzept und Darstellungstechnik war die „Caricatur“ Mitte des 19. Jahrhunderts schon geläufig. In der Brockhaus-Enzyklopädie wird sie definiert als „Spott- oder Zerrbild“, das Eigenschaften des Abge­bildeten übertreibt (Brockhaus 1843, 201). „Die Aufgabe der Satire ist, die nichtigen Bestrebungen und herrschenden Thorheiten und Laster der Zeit, besonders der gesellschaftlichen Verhältnisse, einzelner Staaten und Stände, in ihrer ganzen Blöße darzustellen” (Brockhaus 1847, 558). Als Gegen­teil einer Norm oder eines Ideals schienen die abgebildeten Personen oder sozialen Verhältnisse lächerlich, aber nicht alle Satiren rufen lautes Lachen hervor. Auch wenn sich die Karikatur des Witzes bedient, um Aufmerksamkeit zu wecken, bleibt doch ihr Hauptziel, ihre Betrachter zum Nachdenken zu bringen. Das heißt freilich auch, dass Karikaturen nicht ‚politisch korrekt‘ sind und man ihren moralischen Horizont nicht mit heutigen Maßstäben bemessen kann. Diese Ausstellung zeigt historische Artefakte, die nicht die Weltsicht der Kuratorinnen widerspiegeln. Karikaturen können nicht verstanden und dekodiert werden ohne Kenntnis ihres Referenzhorizonts, den soziopolitischen Verhältnissen. Diese können in unserer virtuellen Ausstellung nur grob umrissen werden. Dennoch verraten uns die Karikaturen viel über die Esskultur ihrer Entstehungszeit, ihre Irritationen, ihr Toleranzpotenzial und nicht zuletzt über ihren Humor.

Einige in den historischen Karikaturen kommunizierte verbale und visuelle Argumente für oder gegen den Vegetarismus werden noch heute massenmedial verbreitet und kontrovers diskutiert. Mit Etablierung der Sozialen Medien haben Debatten über gesunde und ethisch vertretbare Ernährung im 21. Jahrhundert sprunghaft zugenommen. Neu ist gegenüber den früheren Diskursen, dass die Verfechter einer fleischlosen Ernährung nun auch damit argumentieren, dass Massentierhaltung die globale Erwärmung vorantreibt. Die größten Fleischkonzerne sind für mehr CO2-Emissionen verant­wort­lich als die Ölindustrie, doch der öffentliche Druck, Emissionen zu reduzieren, kon­zentriert sich vielmehr auf die Energie- und Transportsektoren, während die Fleischindustrie scheinbar ungestört wächst und auch der globale Pro-Kopf-Fleisch-Konsum stetig zunimmt (GRAIN 2018). Solche Missstände werden nach wie vor von Karikaturisten humorvoll angeprangert, wobei die kausale Relation von Fleischindustrie und Klimawandel der visuellen Satire ganz neue Spielräume eröffnet, die eine eigene Ausstellung wert wären.