Berge, Gletscher und Klima

Bergsteigererzählungen
Alpennatur
Romantische Berge
Geologie und Wetter erzählen
Berge als Erzähler
Gletscher und Klimamanipulation
Schmelzende Glätscher
Weiterführende Links

Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer [Wanderer above the sea of fog], 1818. Oil on canvas, 98.4 × 74.8 cm. Held by Kunsthalle Hamburg.

Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, 1818. Öl auf Leinwand, 98,4 x 74,8 cm. Kunsthalle Hamburg.

Das Thema der Alpennatur vermittelt die Beziehung zwischen Naturszenen und ihrer Repräsentation in Literatur und Kunst. Diese Beziehung ist komplex. Alpine Natur wird durch ihre literarischen Beschreibungen bezwungen. Sie bereitet die Leser gleichzeitig auf weiterführende Erforschung vor und vertieft die Verflechtung der Menschheit mit der Natur. Als literarisches Thema wird alpine Natur aus dem Blickwinkel von Ambivalenz, Gefahr und schließlich deren Bezwingung und Beherrschung betrachtet.

Über Jahrhunderte wurden die Alpen für unpassierbar und unwirtlich gehalten. Abgesehen von gelegentlichen, einzelnen Wohnstätten an abgelegenen Standorten – von Ziegenhirten saisonal als Zufluchtsorte genutzt – lebten die meisten Menschen in Alpentälern, nahe eines Pfadsystems, Sees oder Flusses, welche den Kontakt zu anderen menschlichen Siedlungen sowie Handels- und Verkehrsnetzen ermöglichten.

Eine frühe Form des Alpentourismus war die sogenannte Kavaliersreise durch die Hauptstädte Kontinentaleuropas. Ab dem 17. Jahrhundert begaben sich viele Söhne der britischen und europäischen Eliten auf solch eine Reise, um die Wiegen westlicher Zivilisation und klassischer Antike zu besuchen. Massentourismus im modernen Wortsinn geht zurück bis ins 19. Jahrhundert, als ein Netz von Bahngleisen den Zugang zur alpinen Natur ermöglichte. Der Semmering außerhalb von Wien ist die älteste Bahnstrecke, welche die Berge durchschneidet, und ist  UNESCO Weltkulturerbe.

Es war allerdings der italienische Humanist Francesco Petrarca, der die erste Beschreibung einer Bergbesteigung verfasste. In seiner Geschichte konzentrierte er sich hauptsächlich auf die Erfahrung, als er den Gipfel erreichte und den majestätischen Blick über die Tiefebene genoss. Die Beschreibung von Petrarcas Aufstieg wurde zur Vorlage späterer Schilderungen des Bergsteigens. Mit seiner Erzählung legte Petrarca den Grundstein für die Konventionen, welche noch heute die literarischen Repräsentationen von Bergbesteigungen bestimmen.

Nach einer Wanderung durch die alpine Natur mit seinem Freund, Salomon Geßner, verfasste der schweizerdeutsche Schriftsteller Albrecht von Haller das erste deutschsprachige Gedicht, welches sich speziell mit den Alpen beschäftigt. Geßner ist bekannt für seine pastorale Prosa und Hallers alpines Gedicht bezieht sich reichlich auf jene literarische Tradition.

In seiner Novelle über einen mysteriösen Runenberg zeichnet der romantische Dichter Ludwig Tieck die Bergnatur als Allegorie eines Ortes, an dem Gefahr droht, aber auch große Anziehungskraft wirkt. Den Lesern der Erzählung ist es möglich, die romantische Ambivalenz gegenüber der Bergnatur zu erfahren, indem Sie über die Schultern der Charaktere blicken und deren Anstrengung beobachten, das Buch der Natur zu entziffern - ständig auf der Suche nach tieferer Bedeutung.

Goethes dramatische Figur Faust ist hingegen Materialist. Er strebt danach, die Bergnatur in ihrer materiellen Essenz zu verstehen und führt eine Vielzahl wissenschaftlicher Experimente durch, welche sich mit der Geologie, dem Wetter und der Atmosphäre beschäftigen. Goethe selbst war bekannt für sein wissenschaftliches Interesse und jenem für das Bergsteigen. Seine wissenschaftlichen Studien und literarischen Projekte ergänzten einander.

Der österreichische Schriftsteller und Maler Adalbert Stifter erhebt die Beziehung zwischen Geologie und Literatur zum poetischen Prinzip. In seinem fiktionalen Werk wird die Natur zum Antagonisten der menschlichen Protagonisten. Stifters Charaktere sind ausgebildete Feldforscher. Sie übersetzen ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in narrative Beschreibungen von Natur, die erste Anzeichen etlicher negativer Konsequenzen der menschlichen Verstrickung in die Natur beinhalten.

Moderne Schriftsteller sind weniger zögerlich, die zerstörerischen Konsequenzen menschlich-natürlicher Verwicklungen offen und direkt anzusprechen. In seinem Science-Fiction-Roman thematisiert der Berliner Autor Alfred Döblin die Probleme mit groß angelegten Faustischen Klimamanipulationsvorhaben. Der Zivilisation wird eine Erzählstimme gewährt, die recht kritisch zu diesen Vorhaben steht und deren Verrücktheit und Zerstörungskraft betont.

Der zeitgenössische Autor Ilija Trojanow verfasste den ersten deutschsprachigen Klimawandelroman über einen ehemaligen Gletscherforscher, der nun, 2011, Lektor auf einem Kreuzfahrtschiff in der Antarktis ist. Der Protagonist leidet sowohl körperlich, als auch emotional unter dem Tod des Alpengletschers, den er über mehrere Jahrzehnte studiert hatte. Obwohl der Protagonist durch seine Arbeit in der Kreuzschifffahrtindustrie in den Klimawandel verwickelt ist, so sind die Leser doch in der Lage, seine Qual ob des toten Gletschers zu fühlen, zu durchleben und mit ihm zu leiden.

Diese literarischen Darstellungen von Bergnatur, Bergbesteigungen, geologischer Erforschung, schmelzenden Gletschern und polaren Umgebungen spiegeln nicht nur die damaligen wissenschaftlichen Kenntnisse wieder, sondern gestalten aktiv die Geschichten mit, welche wir einander über diese Natur erzählen.

Bergsteigererzählungen

View from the summit of Mont Ventoux. Photograph by Mimova.

Blick vom Gipfel des Mont Ventoux. Fotografiert von Mimova.

Der italienische Humanist Francesco Petrarca weihte mit seinem Brief vom 26. April 1336 das Genre der Bergbesteigungserzählungen ein; der Brief war auf Lateinisch verfasst worden und an seinen Freund, den Humanisten Dionigi di Borgo,  anlässlich der erfolgreichen Besteigung des Mont Ventoux in der französischen Provence adressiert. Über sein Projekt sagte Petrarca Folgendes:

Viele Jahre lang hatte mir diese Besteigung im Sinn gelegen; […] Es ergriff mich nun das ungestüme Verlangen, endlich einmal auszuführen, was ich täglich hatte ausführen wollen, besonders nachdem mir am Vortag, als ich die römische Geschicte bei Livius nachlas, zufällig jene Stelle begegnet war, wo Philipp, der König von Makedonien […] den Haemus, einen Berg in Thessalien, bestieg.

— Francesco Petrarca,  Die Besteigung des Mont Ventoux (1336), lat./dt., übers. u. hrsg. v. Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam, 1995, S. 5.

View from Mount Haemus (Haemus mons), Bulgaria. Photograph by Deyan Vasilev (Dido3).

Blick vom Berg Haemus (Haemus mons), Bulgarien. Fotografiert von Deyan Vasilev (Dido3).

Im Gegenteil zu den Menschen des Mittelalters betrachtete Petrarca die Welt als einen Ort, der nicht mehr nur ein elender Übergangspunkt auf dem Weg ins Himmelreich ist, sondern als einen Ort mit eigener Berechtigung und eigenen Regeln. Diese neue und eher säkulare Einstellung zur Welt wurde zur Basis einer neuen und radikal anderen menschlichen Haltung gegenüber der Natur und besonders gegenüber Landschaften, eine Haltung in der ästhetische und philosophische Perspektiven eine wichtige Rolle spielen.

Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagen zu meinen Füßen, und schon wurden mir der Athos und der Olymp weniger sagenhaft, wenn ich schon das, was ich über sie gehört und gelesen, auf einem Berg von geringerem Ruf zu sehen bekomme.

Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, S. 17.

Dieses frühe Dokument ist ein Beweis für die Entstehung eines veränderten, säkularen und moderneren Wissens über die Bergnatur in der Renaissance, eines, das Berge als erklimmbar und beherrschbar erfasst. Der Blick vom Gipfel ist ein kraftvolles Instrument für Macht und Eroberung. Landschaften können meilenweit überblickt und mit diesem Wissen  besessen werden.

Alpennatur

Frontispiece to Albrecht von Haller’s Ode sur les Alpes, 1773. Illustration by David Herrliberger.

Titelbild Albrecht von Hallers Ode sur les Alpes 1773. Illustriert von David Herrliberger.

Der schweizerdeutsche Lyriker Albrecht von Haller ist der erste Schriftsteller, der 1729 in seinem Gedicht „Die Alpen“ diese Bergkette beschreibt. Es wurde verfasst nach einem Besuch in den Alpen, der Erforschung der Täler und Gipfel zusammen mit seinem schweizerdeutschen Freund Salomon Geßner. Das lange Gedicht besteht aus 49 Strophen à 10 Zeilen, verfasst in Alexandrinern. Seine Absicht war es, einer gebildeten Öffentlichkeit die Schönheit der alpinen Natur näherzubringen. In diesem Gedicht wird diese Natur - obwohl noch als recht bedrohlich wahrgenommen - auch als durch den Menschen bezwingbar beschrieben.

Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen,
Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt;
Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,
Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind;
[…]

— Albrecht von Haller, „Die Alpen“, 1729, online bei Projekt Gutenberg.

Die Grundhaltung der zunehmenden Beherrschung und Bezwingung der alpinen Natur wird durch Literatur vermittelt. Tatsächlich ermöglicht Literatur diese Haltung und baut gleichzeitig auf ihr auf. Die Bezwingung der Natur und deren literarische und künstlerische Repräsentation sind zwei Seiten derselben Medaille.

Aus diesem Gedicht geht ein literarischer Diskurs zur Alpennatur hervor, der sie als bewohnbar und in rauer Form vollendeter Schönheit abbildet. Das zeigt sich besonders in den Abschnitten, welche sich mit der poetischen Interpretation alpiner Höhen, Gletscher und Wasserläufe befassen:

Hier zeigt ein steiler Berg die Mauer-gleichen Spitzen,
Ein Wald-Strom eilt hindurch und stürzet Fall auf Fall.
Der dick beschäumte Fluß dringt durch der Felsen Ritzen
Und schießt mit gäher Kraft weit über ihren Wall.
Das dünne Wasser teilt des tiefen Falles Eile,
In der verdeckten Luft schwebt ein bewegtes Grau,
Ein Regenbogen strahlt durch die zerstäubten Teile
Und das entfernte Tal trinkt ein beständige Tau.
Ein Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen,
Die aus den Wolken fliehn und sich in Wolken gießen.

— Haller, „Die Alpen“.

Die alpine Natur, welche in diesem Gedicht beschrieben wird, zieht noch immer jedes Jahr zahlreiche Besucher an, die die malerischen hohen Gipfel, schroffen Gletschertäler, unberührten Gebirgsbäche und sich ergießenden Wasserfälle bewundern. Heute ist jedoch das Thema der Gletscherschmelze, zurückzuführen auf den Klimawandel, ein normaler Bestandteil des touristischen Erlebens von Gletscherumgebungen und ein Merkmal vieler zeitgenössischer Beschreibungen alpiner Natur.

Romantische Berge

Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer [Wanderer above the sea of fog], 1818. Oil on canvas, 98.4 × 74.8 cm. Held by Kunsthalle Hamburg.

Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, 1818. Öl auf Leinwand, 98,4 x 74,8 cm. Kunsthalle Hamburg.

Unter den zahlreichen romantischen literarischen Texten, die von Bergen handeln, fasst die Novelle über den mysteriösen „Runenberg“ („Der Runenberg“, 1804) des deutschen Dichters Ludwig Tieck die überwiegend romantische Haltung gegenüber der Bergnatur zusammen. Diese Novelle vereinigt romantische Haltungen gegenüber Bergen mit dem mythischen Charakter der Venus, die angeblich in einem von ihnen wohnt. Zu Beginn der Novelle trifft der junge Jäger Christian auf einen mysteriösen Fremden, welcher ihm vom „Runenberg“ berichtet. Diese Unterhaltung ruft eine Sehnsucht in Christian hervor und er entscheidet sich nach diesem Berg zu suchen

[Christian] kam in Gegenden, in denen er nie gewesen war, die Felsen wurden steiler, das Grün verlor sich, die kahlen Wände riefen ihn wie mit zürnenden Stimmen an, und ein einsam klagender Wind jagte ihn vor sich her. So eilte er ohne Stillstand fort, und kam spät nach Mitternacht auf einen schmalen Fußsteig, der hart an einem Abgrunde hinlief.

— Ludwig Tieck, „Der Runenberg“, 1804, online bei Zeno.org.

Thomas Jones, The Bard, 1774. Oil on canvas. Held by the National Museum Cardiff.

Thomas Jones, The Bard [Der Barde], 1774. Öl auf Leinwand. National Museum Cardiff.

Er achtete nicht auf die Tiefe, die unter ihm gähnte und ihn zu verschlingen drohte, so sehr spornten ihn irre Vorstellungen und unverständliche Wünsche. Jetzt zog ihn der gefährliche Weg neben eine hohe Mauer hin, die sich in den Wolken zu verlieren schien; der Steig ward mit jedem Schritte schmaler, und der Jüngling mußte sich an vorragenden Steinen festhalten, um nicht hinunterzustürzen.

— Tieck, „Der Runenberg“.

Wie wir an dieser Textstelle erkennen können, hoffen die romantischen literarischen Figuren noch, das Buch der Natur zu entziffern. Im Laufe der Geschichte stellt sich allerdings heraus, dass die innersten Bestandteile der Natur eine Form von Gefahr beinhalten, der niemand, und sicherlich nicht der junge Christian, widerstehen kann.

Es sind diese unzugänglichen Gebiete der Bergnatur – ihre versteckten Höhlen und Binnenräume – wo ungeahnte Gefahren lauern.

Henry Fuseli, Nachtmahr [The nightmare], 1781. Oil on canvas, 101.6 x 127 cm. Held by Detroit Institute of Arts.

Henry Fuseli, Nachtmahr, 1781. Öl auf Leinwand, 101,6 x 127 cm. Detroit Institute of Arts.

 

 

Joseph Wright of Derby, Cave at Evening, 1774. Oil on canvas, 101.5 x 127 cm. Held by Smith College Museum of Arts.

Joseph Wright of Derby, Cave at Evening [Höhle am Abend], 1774. Öl auf Leinwand, 101,5 x 127 cm. Smith College Museum of Arts.

 

Es ist interessant zu beobachten, wie diese Höhlen und ihre vermeintlichen Gefahren weiblich kodiert werden. Für die männlichen Charaktere, die romantische Erzählungen bevölkern, enthalten sie sowohl verborgene Freuden, als auch untergründige Gefahren. Die romantische Epoche macht diese ambivalente Haltung zur Bergnatur zu einer ihrer zentralen Anliegen. Christians Rückkehr zum Runenberg am Ende der Novelle, stellt, aus seiner Perspektive betrachtet, eine logische Heimkehr zur romantischen Natur dar – eine Heimkehr, die in der Folge das Thema vieler künstlerischer Darstellungen und musischer Fassungen war.

Geologie und Wetter erzählen

The Brocken viewed from the “Goetheweg” on a postcard.

Postkarte mit dem Blick vom Goetheweg auf den Brocken.

Johann Wolfgang von Goethes literarische Repräsentation von Bergen geht über die romantische Allegorie des Buchs der Natur hinaus und stellt ein neuerliches Interesse am materiellen Berg selbst dar. Goethe war begeisterter Bergsteiger: 1777 erklomm er zum ersten Mal Norddeutschlands höchsten Gipfel, den Brocken in der Region Harz. Er absolvierte den Aufstieg im Laufe seines Lebens insgesamt dreimal. Eine der beliebtesten Routen auf den Gipfel des Brockens ist nach ihm benannt – der „Goetheweg“.

Goethe ist außerdem für seine wissenschaftlichen Studien bekannt, besonders für seine Beschreibungen geologischer und atmosphärischer Erscheinungen. In seinen Aufzeichnungen zu einer möglichen Theorie des Wetters von 1825 schreibt er:

Alle atmosphärischen Erscheinungen haben in dieser Gebirgsgegend einen anderen Charakter als im niederen Lande und drücken sich viel entschiedener aus. Nur muß man […] sich entschließen aus der Karlsbader Schlucht heraus zu gehen und die Höhen zu ersteigen, wo man nach dem Egerkreis und den sächsischen Gebirgen hinsieht. Alles was man in der Enge nur einzeln und mißmutig gewahr wird übersieht sich sodann mit Vergnügen und Belehrung.

— Johann Wolfgang von Goethe, „Karlsbad, Anfang September 1819“, in: Schriften zur allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie, hg. Wolf von Engelhardt und Manfred Wenzel, Bd. 25 von Sämtliche Werke: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 1989, S. 210.

Drawing of a German landscape. Johann Wolfgang von Goethe, 1810.

Zeichnung einer deutschen Landschaft. Johann Wolfgang von Goethe, 1810.

Sein Charakter Faust aus dem gleichnamigen Drama versucht auf vielen seiner Klettertouren die materielle Essenz der Bergnatur zu verstehen. Sein Gegenspieler Mephistopheles selbst allerdings ein weniger talentierter Bergsteiger als Faust, schnauft und keucht auf diesen Ausflügen in die bergige Umgebung und bevorzugt angenehmere, flachere Orte:

Da muß ich mich durch steile Felsentreppen
Durch alter Eichen starre Wurzeln schleppen!

— Goethe, Faust II (1833), Kapitel 48, online bei Projekt Gutenberg.

Illustration for Dante Alighieri’s Divina Commedia. William Blake, unknown year.

Illustration für Dante Alighieris Divina Commedia. William Blake, Jahr unbekannt.

Im vierten Akt der Tragödie zieht sich Faust auf einen hohen alpinen Gipfel zurück um geologische und atmosphärische Erscheinungen aus erhöhtem Blickwinkel zu studieren und zu beschreiben. Von dort beabsichtigt er das Licht und andere atmosphärische Erscheinungen, welche ihn faszinieren, zu erkunden. Diese Episode kündigt bereits das Ende des Stückes an, als Fausts Seele von den Engeln aus dem Griff des Mephistopheles befreit und in den Himmel getragen wird; eine Szene, die in einer Zeichnung von William Blake abgebildet ist.

Faust erlangt sein Wissen über geologische Revolutionen aus einer gebirgigen Perspektive, welche ihm den Zugang zum Blick des Landvermessers ermöglicht – einem Blick der Beherrschung und Bezwingung:

Wie seltsam glimmert durch die Gründe
Ein morgenrötlich trüber Schein!
Und selbst bis in die tiefsten Schlünde
Des Abgrunds wittert er hinein.

Goethe, Faust, Kapitel 24, online bei Projekt Gutenberg. 

Berge als Erzähler

Einige Jahrzehnte nach Goethes Faust kehrte Adalbert Stifter, Österreichs bedeutendster Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, zum Thema der Geologie und Beschreibungen der Alpennatur in seinen fiktionalen Werken und Gemälden zurück.

First edition of Der Nachsommer by Josef Axmann (1793–1873), with an illustration by Peter Johann Nepomuk Geiger (1805–1880). Photograph by H.-P. Haack.

Erstausgabe von Der Nachsommer von Josef Axmann (1793–1873) mit einer Illustration von Peter Johann Nepomuk Geiger (1805–1880). Fotografiert von H.-P. Haack.

In Stifters Roman Der Nachsommer von 1857 wird die Bergnatur zu einem geologischen Narrativ, welches die Menschheitsgeschichte erklärt. Der Ich-Erzähler und Protagonist des Romans, Heinrich Drehndorf, beschreibt seine wissenschaftlichen Studien über Berggipfel und Gletschertäler folgendermaßen:

Ich arbeitete fleißiger und tätiger als in allen früheren Zeiten, wir durchforschten die Bergwände längs ihrer Einlagerungen in die Talsohlen und in ihren verschiedenen Höhepunkten, die uns zugänglich waren, oder die wir uns durch unsere Hämmer und Meißel zugänglich machten.

— Adalbert Stifter, Der Nachsommer. Eine Erzählung (1857), München: Goldmann, 1964, S. 223.

Tools of today’s geologist, a chipping hammer and a loupe. Photograph by Hannes Grobe, AWI.

Werkzeuge eines heutigen Geologen, ein Schlackenhammer und eine Lupe. Fotografiert von Hannes Grobe, AWI.

Es sind seine geologischen Studien und – seiner Arbeit in diesem Feld folgend – die Diskussion seiner Erkenntnisse mit Freunden und Kollegen, die Heinrich zu seiner Frau Natalie führen. Stifter entwickelte das Thema der Geologie in Diskussionen mit seinem Freund Friedrich Simony. Simony war einer der ersten modernen Geologen, die Fotografie als Werkzeug einsetzten um sichtbare Belege für geologische Daten zu liefern. Diese Methode entwickelte sich später zur Zeitrafferfotografie und anderen  Formen der Datenvisualisierung weiter, welche noch im heutigen digitalen Zeitalter Anwendung finden.

The Karls-Icefield on 27 September 1890. Photograph by Friedrich Simony.

Das Karlseisfeld am 27. September 1890. Fotografiert von Friederich Simony.

Während einer Bergbesteigung in der Wintersaison ist es Stifters Protagonisten Heinrich Drehndorf möglich, das gesamte Tal und die Region um den Hof, wo seine zukünftige Ehefrau Natalie lebt, zu überblicken. Erst nach dieser Erfahrung – dem Blick der Beherrschung und Bezwingung – beschließt Heinrich schließlich, um Natalies Hand anzuhalten. An diesem Punkt im Roman wird der Bergnatur, und besonders ihren Gletschermerkmalen, auch eine wesentlich größere Präsenz im Narrativ und in der Handlung zugewiesen:

Wie uns im vorigen Jahre Wälder und Wände eingeschlossen hatten, und nur wenige Stellen uns freien Umblick verschafften, so waren wir heuer fast immer auf freien Höhen, und nur ausnahmsweise umschlossen uns Wände und Wälder. Der häufigste Begleiter unserer Bestrebungen war das Eis.

— Stifter, Der Nachsommer, S. 391–93.

Stifters fiktive Charaktere können signifikante Lebensentscheidungen nur treffen (in Heinrichs Fall die Entscheidung, wen er heiraten soll), wenn ihnen ein klarer Blick über Berggipfel und Gletschertäler ermöglicht wird. Mit anderen Worten: Die Literatur des 19. Jahrhunderts betont die Materialität von Naturszenen und weist der Natur größere narrative Handlungsmacht zu. Es war ihr möglich, sich mit anthropogenen/menschengemachten Interventionen in die Welt der Natur in Einklang zu bringen, obwohl die zerstörerischen Konsequenzen dieser menschlich-natürlichen Verwicklungen langsam erkennbar wurden, zumindest in Einzelfällen. Stifters Texte beweisen, dass die Stimmung im Begriff war umzuschwingen.

Gletscher und Klimamanipulation

Ernst Ludwig Kirchner, Portrait of the Berlin author Alfred Döblin, 1912. Oil on canvas, 50.8 x 41.3 cm. Held by Busch-Reisinger Museum, Harvard University Art Museums, Association Fund.

Ernst Ludwig Kirchner, Portrait des Berliner Autors Alfred Döblin, 1912. Öl auf Leinwand, 50,8 x 41,3 cm. Busch-Reisinger Museum, Harvard University Art Museums, Association Fund.

Ein Romanautor aus Berlin, Alfred Döblin, war der erste literarische Autor, der im frühen 20. Jahrhundert die Klimamanipulation thematisierte. Dies wird in seinem epischen Science-Fiction-Roman, Berge, Meere und Giganten von 1924 deutlich:

In den Kapiteln zu Island und über das Projekt der Enteisung Grönlands um dessen enormes Energiepotenzial zu nutzen, nimmt der Erzähler eine planetare Perspektive ein, und schaut auf die Zukunft der menschlichen Zivilisation herab. Aus dieser Perspektive ist die Welt vollständig zerstört worden. Alle westlichen Kontinente sind vernichtet, ein gewaltiger planetarischer Krieg wurde geführt, Islands vulkanische Energie erschlossen und auf riesigen Schiffen gespeichert. Grönland wurde enteist. Die Technologie, welche das Speichern dieser enormen Energiemengen in Turmalinschleiern ermöglicht um den Energiehunger der Welt zu stillen, wird zunächst erfolgreich angewandt, führt jedoch später zum Wiedererwachen drachenartiger Monster aus früheren geologischen Zeitaltern. Als Folge des sich erwärmenden Klimas bedrohen diese Monster nun alle europäischen Lebensformen.

Die Fachleute hatten vor, die beispiellose Gewalt der schmelzenden Gletscher für sich arbeiten zu lassen. Sie griffen weiter aus; man wollte bei der Enteisung Grönlands nicht stehen bleiben, sondern eine klimatische Änderung der ganzen nördlichen Halbkugel herbeiführen.

— Alfred Döblin, Berge, Meere und Giganten (1924), Olten: Walter, 1977, S. 293.

 

Diagram with various models of climate engineering. Graphic by Rita Erven, Kiel Earth Institute.

Diagramm mit verschiedenen Modellen der Klimamanipulation. Grafik von Rita Erven, Kiel Earth Institute.

Dieses gigantische und furchteinflößende Projekt wird auf eine Art und Weise geschildert, die den Leser anregt davon auszugehen, dass die Zivilisation, als Ganzes, mit einer kritischen und missbilligenden Stimme spricht:

Vor der schottischen Nordküste zackten übersprühte wüste Steininseln aus einem tobenden Meer: dort war der Sammelplatz der Schiffe, Maschinen, Menschen. In London Brüssel zentrierten sich die Ingenieure, Mathematiker, Physiker, Geologen und ihre Gehilfen. Sie wehten immer von neuem Pläne über die Menschen, lockten, erregten.

— Döblin, Berge, Meere und Giganten, S. 295.

A specimen of the silicate mineral tourmaline. USGS, 2004.

Ein Exemplar des Minerals Turmalinquarz. USGS, 2004.

Energiespeicherung wird zum poetischen Prinzip. Die Leser werden mit literarischen Bildern überflutet: Diese sind weder reine Metaphern oder Allegorien des Buchs der Natur im romantischen Sinne, noch erinnern sie an literarische Bilder, welche die Texte des 19. Jahrhunderts durchsetzen.

Die Berge, Meere und Giganten dieses Science-Fiction-Romans des frühen 20. Jahrhunderts werden zu den Antagonisten, die der menschlichen Zivilisation entgegenwirken. Durch jene Merkmale der Erzählung wird der nicht-menschlichen Natur eine literarische Präsenz sowie eine neue Stimme gegeben. Dieses Buch macht seinen Lesern deutlich, dass der technische Fortschritt, welcher die Enteisung Grönlands möglich machte, keine Lösung für zerstörerisches Verhalten gegenüber der Natur ist; Verhalten, welche das kulturelle Fundament moderner westlicher Zivilisationen bilden.

Schmelzende Gletscher

Mountain glacier changes since 1970. Graphic created by Rober A. Rohde as part of the Global Warming Art project.

Gletschertransformationen seit 1970. Grafik von Robert A. Rohde als Teil des Global Warming Art Projekts.

Der zeitgenössische Autor Ilija Trojanow wurde in Bulgarien geboren, in Kenia aufgezogen und bereits in jungen Jahren für die Probleme der Wüstenbildung/Desertifikation und Erderwärmung sensibilisiert. Nach einem Hochschulstudium in Deutschland ist Trojanow nun in Wien ansässig und schrieb 2011 den ersten deutschsprachigen Klimawandelroman EisTau. In diesem Text beschreibt Trojanow die Verbindung zwischen Menschen und Natur als eine tiefe Verstrickung. Der Roman untersucht die Beziehung zwischen dem Gletscherforscher Zeno Hintermaier und einem schmelzenden Gletscher – dem Objekt seiner wissenschaftlichen Bestrebungen – in Form einer Liebesgeschichte.

Ein Leben lang habe ich [Zeno Hintermaier] ihn beobachtet, sorgfältig aus Leidenschaft und mit präzisen Instrumenten.[…]

Ich tastete ihn jedesmal auf neue ab, mit meinen Augen, mit meinen Füßen. Bei jedem Innehalten berührte ich ihn, legte meine Hände an seine Flanken und strich mir dann mit den Händen über das Gesicht. Sein eisiger Atem, seine belebende Kälte. Vertraut war mir jedes seiner Geräusche, das Knarzen und das Scheppern, das Krachen und das Platzen. […] Wir waren wie ein altes Liebespaar, einer von uns beiden war schwer erkrankt, und der andere konnte nichts dagegen unternehmen. 

— Ilija Trojanow, EisTau, München: Carl Hanser 2011, S. 51.

Illustration of a Troughton 24-inch theodolite. Caroline Hassler, 1820.

Illustration eines Troughton Theodoliten (ca. 70 cm). Caroline Hassler, 1820.

Zeno Hintermaier bringt seine Studenten zum Gletscher und stößt bei jeder Exkursion auf das Problem des Schrumpfens, das „sein“ Gletscher aufgrund der Erderwärmung erfährt. Die Situation entwickelt sich zunehmend besorgniserregend.

Wir richteten unseren Blick nach unten. Von oben kann man deutlich das Wirken der Menschen sehen, klar erkennen, wie wir die Natur zugerichtet haben. Das war keine neue Erkenntnis, nicht einmal für städtisch konditionierte Studenten, denen das Wort „Aue“ kaum bekannt war. Aber ich wollte, daß sie wenigstens einen Nachmittag lang bewußt das Altwasser wahrnahmen, das an die Stelle der Aue getreten ist, die begradigten Flüsse, die erzieherischen Maßnahmen unserer Zivilisation.

— Trojanow, EisTau, S. 56–57.

Gletscherschmelze, Erderwärmung und Klimawandel werden dem Leser nicht nur thematisch in Form einer Geschichte präsentiert, die buchstäblich auf einem schmelzenden antarktischen Eisfeld stattfindet, sondern ebenso durch eine Erzählperspektive, die den Lesern Empathie mit dem Hauptcharakter ermöglicht und sie seine Traurigkeit ob der Konfrontation mit dem Thema Klimaerwärmung fühlen lässt. Zeno Hintermaier leidet physisch und emotional unter den Umständen, obgleich er, wie alle Anderen, die einen modernen Lebensstil führen, auf Energie und Ressourcen angewiesen ist. Mithilfe einer solchen Erzählperspektive,kann Literatur wie Trojanows Roman allerdings ein Bewusstsein für die psychologischen Folgen des Klimawandels schaffen und einer großen Anzahl von Menschen zugänglich machen, die vielleicht nicht durch die Wissenschaft zum Handeln, zur Forderung strengerer Bestimmungen, oder zur Änderung ihrer Konsumgewohnheiten bewegt werden konnten.

Weiterführende Links

Wikipedia Artikel über Petrarca

Wikipedia Artikel über Albrecht von Haller

Video über die Ausstellung der Gemälde von Dahl and Friedrich im Albertinum Dresden

Wikipedia Artikel über Thomas Jones

Heights of Reflection, hg. Sean Ireton and Caroline Schaumann, Rochester, New York: Camden House, 2012. Insbesonder siehe: Sullivan, Heather. „Faust’s Mountains: An Ecocritical Reading of Goethe’s Tragedy and Science“; und Sean Ireton, „Geology, Mountaineering, and Self-Formation in Adalbert Stifter’s ‘Der Nachsommer’“ (auf englisch)

Ilija Trojanows Website

Vanishing Ice: Artists on the Frontline of Global Climate Change