Landschaftsveränderungen

Silber- und Goldminen in Lateinamerika
Die Romantische Mine
Faustische Großprojekte
Siedlungen, Bahngleise, Straßensysteme
Die Komplett Zerstörte Landschaft der Gegenwart
Weiterführende Links

Seit den Anfängen der Zivilisation haben Menschen Landschaften verändert; entweder durch landwirtschaftliche Verfahren, Abholzung, das Bauen von Staudämmen oder durch Straßen, Minen, Tunnel, Siedlungen und andere Methoden, welche die Verwandlung von Natur und Umwelt zur Folge haben. Mit der imperialen Ausweitung Europas auf die Neue Welt und andere Kontinente nahmen diese Verwandlungen globales Ausmaß an. Dies wiederum führte zu mehr Handel und erweiterten Transportsystemen und ermöglichte ein noch nie dagewesenes Bevölkerungswachstum, industrielle Landwirtschaft, raschen technologischen Fortschritt sowie die systematische Gewinnung von Rohstoffen. Dieser menschliche Einfluss auf die Natur intensivierte sich radikal während der Industriellen Revolution und in der großen Beschleunigung der 1950er Jahre, die zur Verbreitung der Kerntechnik und globalisiertem Handel führte.

Gottfried Keller, Landschaft mit Gewitterstimmung [Landscape with approaching thunderstorm], 1842. Watercolor, 35 x 47 cm. Held by Zentralbibliothek Zürich.

Gottfried Keller, Landschaft mit Gewitterstimmung 1842. Wasserfarben 35 x 47 cm. Zentralbibliothek Zürich.

Diese Entwicklungen haben Wissenschaftler wie Paul Crutzen, Eugene Stoermer, Will Steffen, Jan Zalasiewicz, Reinhold Leinfelder und Andere dazu veranlasst, unserer Epoche einen neuen Namen zu geben, das „Anthropozän“ – ein Name für eine Ära, in welcher der Mensch eine erdgeschichtliche Kraft geworden ist, die ganze Erdsysteme verändern kann. Jene Wissenschaftler postulieren, dass sich diese Entwicklungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges massiv beschleunigten, eine These, die sie in wissenschaftlichen Darstellungen wie dem berühmten ‚hockey-stick’-Diagramm visualisieren.

Das Medium der Literatur bezieht Position zu diesen Entwicklungen und erfasst sie sowohl thematisch als auch strukturell innerhalb des Textes. Es präsentiert die Transformationen von Umwelt als positiv, neutral oder negativ durch die Perspektive fiktionaler Charaktere, lyrischer Erzähler und dramatischer Figuren, welche mit ihnen in Berührung kommen, entweder zustimmend oder kritisch. Durch Literatur kann der Leser an diesen Verhandlungen teilhaben und das Schicksal der fiktionalen Charaktere teilen, die Landschaftsveränderungen ausgesetzt sind, oder diese, in einigen Fällen, aktiv vorantreiben. 

Literatur hat einen Einfluss auf ihre Leser durch die Erzählperspektiven der Charaktere, die in ihr agieren und welche die Rezeption der Geschichte durch den Leser beeinflussen. Wir denken lange über eine Geschichte nach, die uns ‚gepackt’ hat. Literarische Charaktere können beste Freunde oder Feinde werden – wenn sie bestimmte Erfahrungen machen, so hat dies auch einen Effekt auf uns Leser. Literarische Charaktere können uns zu weiterer Reflektion inspirieren und uns manchmal sogar zu Aktivisten und Kritikern machen.

Bereits die Ägypter legten Minen an, jedoch begann um 1800 eine neue Epoche der Bergbaugeschichte, als neue Technologien auf wissenschaftlicher Basis eingeführt wurden. In Deutschland war die Gründung der Bergakademie Freiberg 1765 ein Zeichen für die sehr viel systematischere Erforschung des Bergbaus und der Techniken zur Gewinnung und Verarbeitung von Mineralstoffen. Mehrere der deutschen romantischen Lyriker entwickelten dort ihre Wertschätzung von Mineralen. Die Akademie existiert noch heute und ist die älteste und wichtigste Bildungseinrichtung der Welt, welche sich explizit dem Studium des Bergbaus widmet.

Kein Wunder, dass Minen eine zentrale Rolle in der romantischen Poesie spielten. Einer der berühmtesten Absolventen der Akademie war Alexander von Humboldt, der Bergbauingenieur in Sachsen wurde bevor er sich auf seine weltberühmte Reise durch Lateinamerika (1799-1804) begab. Während dieser Reise hatte er reichlich Gelegenheit, die Arbeitsbedingungen in den dortigen Minen zu beobachten und in den zahlreichen Reden, die er nach seiner Rückkehr hielt, sowie in den Werken, die er anschließend veröffentlichte, entsprechende Kritik zu üben.

In Europa waren es die Minen von Falun in Schweden, die die Menschen beschäftigten und welche die Kulisse für eine von E. T. A. Hoffmanns Erzählungen bildeten. Hoffmann entwickelt in seiner Geschichte einen zwiespältigen Blick auf die Mine, indem er sie durch die enthusiastischen Augen eines alten Bergarbeiters schildert: Zeitgleich mahnt er zur Vorsicht mithilfe der Perspektive des Hauptcharakters, welcher schließlich in der Mine sein Leben verliert. Goethes Faust andererseits überwindet diese romantische Doppeldeutigkeit, indem er sich auf technische Lösungen der Umweltprobleme konzentriert – eine Herangehensweise, für die er allerdings am Ende des Stückes bestraft wird.

Die Bewegung des literarischen Realismus während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird in dieser Ausstellung durch Passagen aus den Werken des Deutschschweizer Autors und Malers Gottfried Keller repräsentiert. In seiner letzten Geschichte konzentriert sich Keller auf eine andere Art der Landschaftstransformation, und zwar auf das Phänomen ausufernder Siedlungen und Straßensysteme, welche komplette, grüne, subalpine Wiesen in hässliche Baustellen verwandeln und die gesamte ländliche Gegend mithilfe flächendeckender Bahntrassen, Straßen und stetig wachsender Bahnhöfe für Reisende öffnen.

Moderne und zeitgenössische Autoren heben das Ausmaß von Landschaftstransformationen noch deutlicher und kritischer hervor. Dies kann, neben zahlreichen weiteren Beispielen, an den Texten von W. G. Sebald illustriert werden, einem deutschen Schriftsteller, welcher Literaturkritiker und Professor für Europäische Literatur an der University of East Anglia in Norwich wurde. Er wandert durch England und Teilen Kontinentaleuropas, wo er nichts als veränderter und zerstörter Natur begegnet (teilweise durch natürlich entstandene Erosion, teilweise durch menschliches Handeln). Sebalds Erzähler leidet schwer unter diesen Begegnungen.

Jene literarischen Texte beurkunden Transformationen von Landschaft auf der Charakterebene und deren Perspektive auf ihre Erfahrungen. Über einen Zeitraum von mehr als zweihundert Jahren weicht ein romantischer Enthusiasmus gegenüber den Förderstellen allmählich offener Kritik, oft in eine melancholische Haltung der Charaktere mündend, die, wohin sie sich auch wenden, nichts als Orte der Veränderung und letztendlich Zerstörung vorfinden.

Silber- und Goldminen in Lateinamerika

Sixteenth-century illustration of the Bolivian city Potosí, from Crónica del Perú. Pedro Cieza de León, 1553.

Illustration der bolivianischen Stadt Potosí aus dem 16. Jahrhundert, aus Crónica del Perú. Illustration von Pedro Cieza de León, 1553.

Die weitreichende Transformation von Landschaft durch menschliches Handeln fand einen ihrer ersten und erfolgreichsten deutschen Kommentatoren im Bergbauingenieur Alexander von Humboldt. In der persönlichen Erzählung seiner Reise nach Lateinamerika (1799-1804) reagierte Humboldt auf was er dort sah und erlebte zunächst mit Zustimmung, jedoch zunehmend mit Sorge. In seinem Reisebericht von 1815 äußert er Kritik an der Arbeitssituation in den Minen und der endlosen Gier des Spaniers’ nach Gold:

Ein kürzlich auf diesem Küstenland eingetroffener Gouverneur mußte, um sich dem Hof zu empfehlen, die Bergwerke seiner Provinz rühmen, und um den niedrigen und häßlichen Charakter der Goldgier einigermaßen zu decken, rechtfertigte man sie durch den Gebrauch, welchen man von den durch List und Gewalt gesammelten Reichtümern machen zu wollen vorgab.

— Alexander von Humboldt, Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas, Teilbd. 1, hg. Hanno Beck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, S. 436.

Sogar Christopher Columbus’ Brief an König Ferdinand, in welchem Columbus den Wert der Ressource Gold zum Ruhme des spanischen Königs anpreist, gibt Anlass zur Kritik. Humboldt bezeichnet den Brief ein Dokument welches in seiner Zeit verhaftet ist, bemerkt aber, dass es ihn schmerzt, „ein so pomphaftes Lob der Reichtümer von einem Manne zu hören, dessen ganzes Leben die edelste Uneigennützigkeit offenbarte“ (S. 437).

Diese Passagen zeigen ein wachsendes kritisches Bewusstsein fortschrittlich orientierter, europäischer Intellektueller zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und inwiefern die imperiale Epoche europäischer Einflussnahme auf den Rest der Welt auf der systematischen und unhaltbaren Gewinnung von natürlichen Ressourcen aus diesen ‚neuen Welten’ zugunsten der wachsenden europäischen (Welt-)Reiche begründet war und ist.

Die Romantische Mine

Nineteenth-century portrait of the German Romantic author E. T. A. Hoffmann. Artist and year unknown. Oil on wood, 41 x 35 cm. Held by Alte Nationalgalerie in Berlin.

Portrait des deutschen romantischen Autors E. T. A. Hoffmann aus dem 19. Jahrhundert. Künstler und Jahr unbekannt. Öl auf Holz, 41 x 35 cm. Alte Nationalgalerie in Berlin.

In einer Erzählung von 1819 richtet der deutsche romantische Autor E. T. A. Hoffmann seinen Blick auf eine der größten europäischen Minen, in der schwedischen Stadt Falun. In dieser Geschichte betont er die Tragik von tödlichen Minenunfällen.

Der Seemann Elis Fröböm sieht den „Schlund“ der Mine von Falun zum ersten Mal und reagiert mit Entsetzen, eine Emotion die er zu einem späteren Punkt in der Geschichte überwinden muss, wenn er seinem Herzen folgen und die schöne Ulla, Tochter des Minenbarons, heiraten will. Kurz vor ihrer Hochzeit jedoch wird Elis lebendig in der Mine begraben und Ulla ist erst fünfzig Jahre später in der Lage den völlig konservierten Leichnam in ihre Arme zu schließen, als dieser wiedergefunden wird.

Um die Spannungen zu akzentuieren verleiht Hoffmann zunächst einem alten Bergarbeiter Stimme, der Elis von der mythischen, unterirdischen Welt der Minerale mit romantischem Enthusiasmus berichtet:

[Der alte Bergmann] sprach von dem unermeßlichen Reichtum der Erzgrube an dem schönsten Gestein. Immer lebendiger und lebendiger wurde seine Rede, immer glühender sein Blick. Er durchwanderte die Schachten wie die Gänge eines Zaubergartens. Das Gestein lebte auf, die Fossile regten sich, der wunderbare Pyrosmalith, der Almandin blitzten im Schein der Grubenlichter – Die Bergkristalle leuchteten und flimmerten durcheinander.

— E. T. A. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun(1819), Kapitel 1, online bei Projekt Gutenberg. 

Almandin on grayish-green slate, found in Austria. Object size: 19 x 11 x 7 cm. Photograph by Didier Descouens.

Almandin auf grau-grünem Schiefer, gefunden in Österreich. Objektgröße: 19 x 11 x 7 cm. Fotografiert von Didier Descouens.

Dieser romantischen Idealisierung der Welt der Minerale stellt Hoffmann Elis Fröböms erste Beschreibung des „Minenschlunds“ entgegen:

Die schwarzbraunen Seitenwände gehen anfangs größtenteils senkrecht nieder; dann verflachen sie sich aber gegen die mittlere Tiefe durch ungeheuern Schutt und Trümmerhalden. […] Kein Baum, kein Grashalm sproßt in dem kahlen zerbröckelten Steingeklüft, und in wunderlichen Gebilden, manchmal riesenhaften versteinerten Tieren, manchmal menschlichen Kolossen ähnlich, ragen die zackigen Felsenmassen ringsumher empor. Im Abgrunde liegen in wilder Zerstörung durcheinander Steine, Schlacken – ausgebranntes Erz, und ein ewiger betäubender Schwefeldunst steigt aus der Tiefe, als würde unten der Höllensud gekocht, dessen Dämpfe alle grüne Lust der Natur vergiften.

— Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, Kapitel 2, online bei Projekt Gutenberg. 

Durch die Gegenüberstellung dieser zwei Haltungen zur Bergbauindustrie regt Hoffmann seine Leser an, das Ausmaß der Transformation von Landschaft durch den Bergbau und den Nutzen von Mineralen zu reflektieren. 

Faustische Großprojekte

Großprojekte benötigen umfangreiche Überblicke über die Landschaft, die es erlauben, ihr aus einem Blickwinkel von Macht und Beherrschung zu begegnen. Deutschlands berühmter Dichter, Johann Wolfgang von Goethe, bildet solch eine Haltung der Beherrschung der Natur in einer entscheidenden Szene in Faust II ab, in der Faust sein Konzept von Gebirgsnatur reflektiert:

Gebirgesmasse bleibt mir edel-stumm,
Ich frage nicht woher und nicht warum.
Als die Natur sich in sich selbst gegründet,
Da hat sie rein den Erdball abgeründet,
Der Gipfel sich, der Schluchten sich erfreut
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht,
Die Hügel dann bequem hinabgebildet,
Mit sanftem Zug sie in das Tal gemildet.

— Johann Wolfgang von Goethe, Faust II (1833), Kapitel 48, online bei Projekt Gutenberg.

Drawing of the marble quarry near Hof. Johann Wolfgang von Goethe, 1810.

Zeichnung des Marmorbruches in der Nähe von Hof. Johann Wolfgang von Goethe, 1810.

Die Gewalt mit der Faust das alte Paar, Philemon und Baucis, im fünften Akt verdrängen will, um seine Vision der Weltherrschaft zu realisieren, entstammt der tiefsitzenden Tendenz in der westlichen Kultur, die Natur beherrschen zu wollen. Goethe gibt dieser Tendenz eine übertriebene Form und drängt uns, sie kritisch zu reflektieren:

Die Alten droben sollten weichen,
Die Linden wünscht’ ich mir zum Sitz,
Die wenig Bäume, nicht mein eigen,
Verderben mir den Weltbesitz.
Dort wollt’ ich, weit umherzuschauen,
Von Ast zu Ast Gerüste bauen,
Dem Blick eröffnen weite Bahn,
Zu sehn, was alles ich getan,
Zu überschaun mit einem Blick
Des Menschengeistes Meisterstück,
Betätigend mit klugem Sinn
Der Völker breiten Wohngewinn.

Goethe, Faust II (1833), Kapitel 58, online bei Projekt Gutenberg.

Siedlungen, Bahngleise, Straßensysteme

Im letzten Roman des schweizerdeutschen Autors Gottfried Keller, Martin Salander (1886), erkennt die Titelfigur ihre Heimatstadt kaum wieder, als sie nach mehreren Jahren von Brasilien in die Schweiz zurückkehrt.

A small provincial railway station in Switzerland. Photograph by Bobo11.

Ein kleiner, ländlicher Bahnhof in der Schweiz. Fotografiert von Bobo11.

Der Kleinstadtbahnhof, an den sich der Erzähler von vor seiner Abreise erinnert, ist in der Zwischenzeit durch einen weitaus größeren ersetzt worden. Tatsächlich unterliegt der komplette Landstrich nun einem flächendeckenden Schienensystem. Überdies sind Wälder und Wiesen in hässliche Baustellen verwandelt worden:

Jedoch vergeblich forschte [Martin Salander] zwischen der rastlosen Überbauung des Bodens nach Spuren früherer Pfade, die sonst zwischen Wiesen und Gärten schattig und freundlich hügelan geleitet hatten. Denn diese Pfade lagen auch weiterhin unter staubigen oder mit hartem Kies beschotterten Fahrstraßen begraben.

— Gottfried Keller, Erzählungen, hg. Bettina Plett, München: Winkler, 1960, S. 717.

Gottfried Keller, Landschaft mit Gewitterstimmung [Landscape with approaching thunderstorm], 1842. Watercolor, 35 x 47 cm. Held by Zentralbibliothek Zürich.

Gottfried Keller, Landschaft mit Gewitterstimmung 1842. Wasserfarben 35 x 47 cm. Zentralbibliothek Zürich.

Es stellt sich heraus, dass die vielen schönen Bäume, die vor oder neben Martin Salanders Heim und dem Nachbargrundstück standen, gefällt wurden, um Platz zu schaffen für zusätzliche Gebäude in Folge der enthusiastischen Stimmung gegenüber Bauvorhaben und Expansion in der Gemeinde. Als er sich nach den vielen schönen Bäumen erkundigt, welche um das Haus seines Nachbarn standen, erzählt ihm seine Frau:

Man hat [dem Landbesitzer] das Land weggenommen oder eigentlich ihn gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere Landbesitzer den Bau einer unnöten Straße durchgesetzt haben. Nun ist sie da, jedes schattige Grün verschwunden und der Boden in eine Sand- und Kiesfläche verwandelt, aber kein Mensch kommt, die Baustellen zu kaufen. Und seit die guten Bäume dahin sind, ist auch mein Erwerb dahin!

— Keller, Erzählungen, S. 735.

Kellers Sichtweise auf diese Transformationen ist nicht neutral. Er lässt seinen Charakter diese Bauwut kritisch kommentieren. Die Leser erleben zudem Salanders Schock und Ablehnung dieser Entwicklungen. Gleichzeitig sind sie dazu aufgerufen, Salanders eigene Verstrickung und Bedeutung in diesem Modernisierungsprozess zu reflektieren.

Nineteenth-century map of Zürich. Drawing by Heinrich Weiss-Keiser, c. 1865.

Karte von Zürich aus dem 19. Jahrhundert. Gezeichnet von Heinrich Weiss-Keiser, circa 1865.

Vom Bahnhofe hinweg machte Salander einen längeren Gang durch abermals neu entstandene oder ausgebaute Quartiere und unterhielt sich damit, ein und anderes Haus zu erspähen, auf welches er flüssiges Kapital geliehen hatte. […] Hierüber fielen seine Gedanken auf das bedenkliche Umsichgreifen der Baulust, welcher er ja selbst Vorschub leistete, und auf die Reden, welche bereits von einem unvermeidlichen Häuserkrach umgingen.

— Keller, Erzählungen, S. 922.

Die Dufour Karte von 1846-1865 dokumentiert die Transformationen von Landschaften als Ergebnis moderner Siedlungen und Verkehrsnetze, welche zum ersten Mal für die Umgebung von Zürich aufgezeichnet wurden. Es folgt eine Abbildung von Zürich und seinem Umland, welche das Ausmaß der menschlichen Siedlungen zur Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt.

Die Komplett Zerstörte Landschaft der Gegenwart

Die heutigen, dicht bebauten Landschaften mit all ihren Verkehrsnetzen erschaffen eine Topografie, die geprägt ist durch Verschmutzung und Abfall menschlicher Aktivitäten; eine Tatsache, die in der Gegenwartsliteratur überdeutlich wird.

W.G. Sebald war ein deutscher Schriftsteller, der seit 1966 in England lebte und dort bis zu seinem Tod Professor für europäische Literatur und Übersetzungsstudien an der University of East Anglia war. Sebald beschrieb dicht bebaute Landschaften in seinem Roman Die Ringe des Saturn (1995), der inspiriert war durch eine Region in den Niederlanden, welche der Autor von oben betrachten konnte, als er von einem Wandertrip durch Nordeuropa zurück nach England flog.

Das kleine Propellerflugzeug, das zwischen Amsterdam und Norwich verkehrt, stieg zuerst der Sonne entgegen, ehe es in westlicher Richtung abdrehte. Unter uns lag ausgebreitet eine der am dichtesten besiedelten Regionen Europas, endlose Reihenhauszeilen, mächtige Trabantenstädte, business parks und glänzende Glashäuser, die gleich großen vierkantigen Eisschollen zu treiben schienen auf dem bis in den letzten Winkel ausgenutzten Land. Eine über Jahrhunderte sich hinziehende Regulierungs-, Kultivierungs- und Bautätigkeit hatte die gesamte Fläche verwandelt in ein geometrisches Muster.

— W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn, Frankfurt am Main Eichhorn, 1995, S. 112.

Sebalds Erzähler wandert durch ein komplett trostloses Stück Erde, verändert durch menschliche Aktivität, und erlebt diese Veränderung physisch und mental als eine Form der Zerstörung. Dies führt zu einem Zustand der Melancholie.

Als er später durch Suffolk läuft, speziell durch den Heath of Dunwich, der der Küstenerosion zum Opfer gefallen ist (ein Phänomen, welches nicht durch menschliche Aktivität hervorgerufen wurde), ist er versetzt 

in einen Zustand wachsender Panik. Der tief herabhängende bleierne Himmel, das krankhafte, die Augen trübende Violett der Heide, die in den Ohren wie das Meer in einer Muschel rauschende Lautlosigkeit, die Fliegen, die mich dauernd umschwärmten, beängstigend und grauenvoll kam mir das alles vor

Sebald, Ringe des Saturn, S. 205.

Sebalds Charakter drückt diese Gefühle der Panik und der Melancholie dadurch aus, dass er einen Schreibstil verwendet, welcher die Wahrnehmung der Realität der Szene für den Leser formt. Er beschreibt die zerstörte Landschaft, durch die er läuft, sehr detailliert und vorsichtig, was den Effekt hat, dass es geradezu unwichtig wird, ob diese Zerstörung natürlich oder durch Menschenhand verursacht wurde.

Weiterführende Links

Humboldt im Netz (HiN): Zeitschrift für Humboldt-Studien

Arduini, Mark, Bill Cogar, Kim Gove, et al. „Silver Mines of South America.Captive Passage: The Transatlantic Slave Trade and the Making of the Americas. The Mariners‘ Museum, 2002

Neubauer, John. „The Mines of Falun: Temporal Fortunes of a Romantic Myth of Time.“ Studies in Romanticism 19, no. 4 (Winter 1980): 476–495

Goethezeitportal

Wendell Berry, „Faustian Economics: Hell Hath No Limits.“ Harper’s Magazine (May 2008)

Ritchie, J. M. „The Place of ‘Martin Salander’ in Gottfried Keller’s Evolution as a Prose Writer.“ The Modern Language Review 52, no. 2 (1957): 214–222

Wikipedia Artikel über W. G. Sebald

Wikipedia Artikel über Faust II

Stephen Mitchelmore, „W. G. Seabald: Looking and Looking Away,“ Spike Magazine (November 2004)

Theodore Ziolkowski, German Romanticism and its Institutions (1992)